graswurzelrevolution, 28.11.2002 Dialog zwischen Feinden – der internationale Irak-Kongress in Berlin „Denken Sie doch nach! Wenn Sie heute zum Arzt gehen und der sagt Ihnen: Sie haben einen lebensgefährlichen Hirntumor, wir müssen Sie auf der Stelle operieren, bitte legen Sie sich hierhin, damit ich Ihnen den Kopf aufschneiden kann – was tun Sie dann? Sie verlangen natürlich die Röntgenbilder! Sie wären ein kompletter Narr, wenn Sie das nicht täten. Und wenn George Bush heute sagt: der Irak hat Massenvernichtungswaffen, wir müssen einen Krieg gegen ihn führen – verlangen Sie die Röntgenbilder! Verlangen Sie die Beweise! Er hat sie nicht. Wir haben den Irak faktisch entwaffnet – die 5%, die dort noch übrig sind, sind keine Gefahr mehr für irgend jemand. Es geht bei diesem Krieg nicht um Massenvernichtungswaffen – worum es geht, können Sie in der neuen Nationalen Sicherheitsdoktrin der USA vom September nachlesen: US-Unilateralismus. Dafür gibt es ein anderes Wort, und das sollten wir in Zukunft gebrauchen: US-Imperialismus. An Ihrer Stelle würde ich mich hier in Europa zu Tode fürchten. Der Feind in diesen Tagen sitzt nicht in Bagdad, er sitzt in Washington D.C. Stehen Sie auf für Ihre Souveränität. Helfen Sie uns, diesen Krieg zu verhindern!“ Der Beifall der 250 KongressteilnehmerInnen galt keinem gestandenen Alt-68er, sondern dem Republikaner, Ex-Marine und langjährigen UN-Waffeninspektor im Irak, Scott Ritter. „Es ist ein höchst ungewöhnliches Zusammentreffen, als ehemaliger UN-Koordinator für die Hilfsleistungen im Irak gemeinsam mit einem ehemaligen Waffeninspektor aufzutreten, aber ein dringender Anlass erfordert ungewöhnliche Maßnahmen“, hatte Hans von Sponeck die sehr gut besuchte Pressekonferenz am Nachmittag des 1. November in Berlin eingeleitet, und ungewöhnlich war das ganze Konzept der Veranstaltung: in dem bedrohlich eskalierten Konflikt zwischen der Welt-Supermacht und einem diktatorischen Regime alle beteiligten Parteien zu Wort kommen zu lassen – zusammen mit Friedensforschern, Völker- und MenschenrechtlerInnen, ZeugInnen der Embargo-Folgen und Politikern. Und viele haben die Herausforderung angenommen: die Generalsekretärin von amnesty international, Barbara Lochbihler ebenso wie der irakische Botschafter in London, Dr. Mudhafar Amin, Professor Ulrich Gottstein vom IPPNW, Jan Oberg von der Transnational Peace Foundation in Lund, die Kurdin Rim Farha, Hans von Sponeck, Scott Ritter, der Völkerkundler Bernhard Graefrath, Peter Strutynski vom Kasseler Friedensratschlag, Azis Alkazaz vom Orient-Institut in Hamburg, Professor Rainer Mutz von der Gesamthochschule Kassel, der Historiker Prof. Sauermann aus Halle, die Ärztin Dr. Eva-Maria Hobiger aus Wien, sowie die beiden Politiker Edelbert Richter und Wolfgang Gehrke. Verweigert haben sich die Vertreter der US-Botschaft in Berlin – sie haben die Einladung nicht beantwortet. Verweigert haben sich deutsche Regierungsvertreter oder Menschenrechtsbeauftragte – da hatte von 16 Angefragten keine/r Zeit, manch einer auch nicht für eine Antwort. Verweigert hat sich auch die irakische Opposition – die Konferenz sei eine Pro-Hussein-Veranstaltung, und nichts und niemand könne sie von etwas anderem überzeugen, punkt. Breit war die Koalition der MitveranstalterInnen der Konferenz – sie reichte von den Ärzten gegen den Atomkrieg über die DFG-VK und attac Berlin bis hin zur deutsch-arabischen und deutsch-irakischen Gesellschaft – und heftig umstritten war der Ansatz „Dialog statt Krieg“ bereits im Vorfeld. Für Linke ein schwieriger Gedanke, sich auch nur anhören zu wollen, was „der Feind“ in Gestalt eines amerikanischen Ex-CIA-Offiziers wie Scott Ritter oder des irakischen Botschafters zu sagen haben könnte. Für Friedensaktivisten ein Problem mit Klärungsbedarf, die durch Möllemann in Verruf geratene deutsch-arabische Gesellschaft unter den Mitveranstaltern zu wissen. Für die irakische Opposition im Exil eine erklärte Zumutung, einen Botschafter des von ihr bekämpften Regimes auf dem Podium zu wissen. Für die kurdische Nationalregierung unlösbare interne Linienkämpfe über eine vermutete Feigenblattfunktion. Für das Kongressbüro also der ganz normale Wahnsinn einer Konferenz-Organisation – Flug-und Hotel- und Rathausbuchung, Übersetzungsanlagen, Termin- und Honorar- und Vortragsabsprachen, Fundraising, Faltblätter, Anzeigen, Presse – und nebenher die täglichen Debatten mit Gott und der Welt. Es hat sich gelohnt. Insgesamt 350 TeilnehmerInnen und eine große Zahl von Presse- und Fernsehleuten haben am 1. Und 2. November 2002 im Schöneberger Rathaus in Berlin ungewöhnliche Leute in ungewöhnlicher Zusammensetzung gehört, gesehen und gesprochen. „Wir haben es hier mit einer Achse der Desinformation durch die Vereinigten Staaten zu tun, und dagegen müssen wir etwas unternehmen“, sagt Hans von Sponeck, der vor zwei Jahren nach 30 Jahren im diplomatischen Dienst sein Amt quittiert hat, weil er nicht mehr ertragen konnte und wollte, was er täglich zu sehen bekam. „Es ist eine ungeheure Schande und ein Verbrechen, was die Sanktionen der Bevölkerung des Irak angetan haben. Vor zehn Jahren sind im Irak 57 von 1000 Kindern unter zehn Jahren gestorben – heute sind es 141. In Schweden sind es 4. Meine Damen und Herren, ich frage Sie - wie soll ein Volk unter solchen Bedingungen sich für demokratische Rechte im eigenen Land einsetzen?“ Gespannte Stille, als der irakische Botschafter Dr. Mudhafar Amin aus London mit spürbarer Aufregung seine Rede beginnt. „Ich bin dankbar, heute hier sprechen zu können. Es ist für uns sehr wichtig, dass uns überhaupt jemand zuhört. Wir haben den USA und Groß-Britannien mehrfach unsere Bereitschaft angeboten, offen und ohne Bedingungen über alles zu verhandeln, was auch immer die Vereinten Nationen von uns verlangen. Über alles! Über jedes einzelne Thema, das sie für wichtig halten! Wir sind bereit zum Gespräch. Wir brauchen es. Wir wollen genau wissen, was wir tun sollen. Sie haben uns nicht einmal geantwortet. Auch die Europäische Union hat unsere Briefe nicht beantwortet. Warum lässt man uns ohne Hoffnung? Wir haben uns 1991 aus Kuwait zurückgezogen. Die Sanktionen bestehen fort. Wir haben unser Land entwaffnet, wie es verlangt war, aber die Sanktionen bestehen fort und bestrafen eine ganze Generation, die für Kuwait nichts kann. Das Volk im Irak hat genug gelitten. Geben Sie ihm die Hoffnung auf ein normales Leben wieder.“ Beifall für den Botschafter. Und wieder Scott Ritter: „Ich will, dass Ihnen endlich klar ist: wir müssen diesen Krieg verhindern. Unbedingt! Das ist hier nicht die Zeit für semantische Feinheiten über diesen oder jenen inhaltlichen Unterschied in verschiedenen kleinen Gruppen. Es ist auch nicht die Zeit, über die Machenschaften der irakischen Regierung zu diskutieren. Genau jetzt fliegen unsere Truppen bereits nach Kuwait, nach Jordanien, in die Türkei. Eben jetzt wird von Ihren deutschen Startbasen aus das Kriegsmaterial in den Mittleren Osten geflogen. Wenn Sie uns nicht helfen, diesen Krieg JETZT aufzuhalten, und zwar jetzt, bis zum Ende dieses Monats, dann werden wir dieses Land abschlachten! Und das will ich aufhalten! Wenn wir uns gemeinsam auf dieses eine Ziel konzentrieren, dann können wir es schaffen.“ Es teilt sich jenseits aller Inhalte deutlich mit: wer immer auf dem Podium spricht an diesen beiden Tagen, ist weit über einen professionellen Rahmen hinaus persönlich engagiert – und alle haben ohne Honorar gesprochen. Der Friedens- und Konfliktforscher Jan Oberg wird am Schluss noch einmal deutlich: „Die einzige Aufrüstung oder besser: Wiederaufrüstung, die wir heute brauchen, ist eine intellektuelle. Und es ist weiß Gott keine besondere intellektuelle Herausforderung, in diesem Konflikt mit irgend etwas besserem aufzuwarten als damit, den Irak abzuschlachten. Herrjeh, wir sind doch nicht mehr in der Steinzeit! Die EU hat in dieser Frage keinen eigenen, klaren und scharfen Standpunkt formuliert, sie hat bisher keinen konstruktiven Vorschlag anzubieten, und das ist ein Skandal. Verhalten wir uns wie die zivilisierten Menschen, die wir so gerne sein wollen – nehmen wir wieder Beziehungen und Kontakt auf. Nur wer etwas vom Gegner weiß und mit ihm redet, kann eine Lösung finden. Fordern wir unsere Regierungen auf, sofort wieder diplomatische Beziehungen mit dem Irak aufzunehmen! Heute. Jetzt. Sofort. Und was uns alle selbst betrifft – nun, jede und jeder in diesem Raum ist eine Friedensbewegung. Jammern Sie nicht – tun Sie etwas. Bombardieren Sie Ihre Abgeordneten, ihre Minister, Ihre Regierung mit e-mails. Machen Sie eindeutig klar: dieser Krieg findet nicht in meinem Namen statt. Besorgen Sie sich e-mail-Adressen aus dem Irak. Lassen Sie die Menschen dort wissen, dass Sie an Ihrer Seite sind. Bilden Sie Delegationen und fahren Sie hin! Schreiben Sie Leserbriefe an Ihre Zeitung. Sie können etwas tun! Tun Sie es.“ Annette Schiffmann Die Adresse des Auswärtigen Amts: www.auswaertiges-amt.de/www/de/Kontakt Informationen über geplante Delegationen in den Irak: www.delegation.de Empfohlen für weitere links und Infos: www.irak-kongress-2002.de